Der Vorwurf des „Götzendienstes“ gehört zu den ältesten und härtesten Abwertungen, mit denen monotheistische Religionen andere Glaubensformen belegt haben. Wer „Götzen“ verehre, so hieß es seit der Antike, bete lebloses Holz und kalten Stein an, statt den „wahren Gott“. Doch diese Vorstellung war nie eine faire Beschreibung polytheistischer Religiosität. Sie diente vielmehr der Abgrenzung und Diskreditierung. Ein Blick auf verschiedene Traditionen zeigt, dass Abbildungen und Statuen im Polytheismus nicht als bloße Gegenstände verstanden werden, sondern als Medien, durch die das Göttliche erfahrbar und präsent wird.

Ägypten: Wohnsitze der Götter

In der altägyptischen Religion waren die Statuen in den Tempeln keine Dekoration. Sie galten als Wohnsitze der Götter. Durch tägliche Rituale – Waschungen, Salbungen, Bekleidung, Opfergaben – wurde die göttliche Präsenz geehrt und am Leben gehalten. Die Gottheit war nicht im Material aus Holz oder Stein „eingeschlossen“, sondern ließ sich im Kult darin gegenwärtig machen. Die Statue war somit ein Tor, durch das Menschen in Beziehung zu den Mächten des Kosmos traten (vgl. Assmann 1984).

Hinduismus: Manifestationen des Göttlichen

Im Hinduismus spielen Götterbilder, sogenannte mūrti, bis heute eine zentrale Rolle. Sie werden nicht als „bloße Figuren“ verstanden, sondern als Manifestationen des Göttlichen. In speziellen Ritualen wie prāṇa-pratiṣṭhā wird die göttliche Lebensenergie eingeladen, im Bild gegenwärtig zu sein. Für Gläubige bedeutet die Begegnung mit einer Mūrti (darśan) nicht das Anstarren einer Figur, sondern das gegenseitige „Sehen“ von Gott und Mensch. So wird das Unsichtbare sichtbar, und das Göttliche tritt in Beziehung zur Gemeinschaft (vgl. Eck 1998).

Buddhismus: Bilder als Begegnung mit Erwachtem

Auch im Buddhismus sind Abbildungen nicht „Anbetung von Stein“. Sie verkörpern die Gegenwart des Erwachten. Eine Buddha-Statue dient als Fokuspunkt für Meditation, Andacht und Segenshandlungen. Gläubige entzünden Räucherwerk, legen Blumen nieder und verneigen sich – nicht vor dem Material, sondern vor der erleuchteten Wirklichkeit, die in dieser Gestalt greifbar wird. In der Praxis des darśan wird die Statue zum Medium der wechselseitigen Begegnung mit Buddha (vgl. Lopez 2004).

Nordisches Heidentum: Präsenz in den Heiligtümern

Aus Quellen wie Adam von Bremen oder archäologischen Funden wissen wir, dass Statuen von Odin, Thor oder Freyr in Heiligtümern wie Uppsala aufgestellt waren. Sie wurden mit Opfergaben wie Speisen, Trank oder Waffen geehrt. Die Menschen glaubten, dass die Götter durch die Rituale in den Figuren anwesend wurden. Die Statue selbst war Symbol und Fokus, nicht das Göttliche selbst (vgl. Price 2019).

Keltisches Heidentum: Idole in Hainen und Quellen

Die Kelten errichteten Holzidole, Masken und figürliche Darstellungen in heiligen Hainen oder an Quellenheiligtümern. Hier brachten sie Waffen, Schmuck oder Tieropfer dar. Auch diese Figuren waren Repräsentationen – Orte, an denen die Gottheit ansprechbar wurde, nicht Objekte selbständiger Verehrung (vgl. Green 1989).

Slawisches Heidentum: Mehrgesichtige Götterbilder

Besonders eindrücklich sind die slawischen Holzidole, etwa das viergesichtige Swantewit-Bild in Arkona. Es symbolisierte Allwissenheit und göttliche Präsenz in alle Himmelsrichtungen. Vor diesen Statuen fanden Feste, Opfer und Orakelhandlungen statt. Die Figur war Medium einer kosmischen Macht, nicht bloß Holz (vgl. Curta 2021).

Ein gemeinsames Muster

So verschieden die Traditionen sind, sie teilen eine Grundidee: Abbildungen und Statuen sind nicht die Gottheiten selbst, sondern Vermittler ihrer Präsenz. Sie sind Symbole, „Wohnsitze“, Manifestationen – Brücken zwischen sichtbarer Welt und unsichtbarem Göttlichen. Die Vorstellung, Gläubige würden „Steine anbeten“, ist eine grobe Verkürzung, die den religiösen Sinn verfehlt.

Fazit: Worte prägen unser Miteinander

Der Begriff „Götzendienst“ ist ein Relikt vergangener Machtkämpfe zwischen Religionen. Er beschreibt nicht, was Menschen in polytheistischen Traditionen wirklich tun, sondern entwertet und verzerrt ihre religiöse Praxis. Wer heute ernsthaft am interreligiösen Dialog teilnimmt, sollte diesen Kampfbegriff hinter sich lassen.

Denn Worte prägen unser Miteinander: Wer von „Götzendienst“ spricht, baut Mauern. Wer dagegen von „Manifestationen“, „Symbolen“ oder „Wohnsitzen des Göttlichen“ spricht, öffnet Türen. Respekt beginnt mit der Sprache – und führt zu echtem Verstehen.

Wenn wir den Frieden zwischen Religionen stärken wollen, dann verzichten wir auf alte Vorwürfe und lernen stattdessen, die Bilder der anderen als Brücken zum Göttlichen zu sehen.

Quellen

  • Assmann, Jan: Ägypten. Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur. Stuttgart 1984.
  • Eck, Diana: Darśan: Seeing the Divine Image in India. 3. Aufl., New York 1998.
  • Lopez, Donald S.: Buddhism and the Visual Arts. Cambridge 2004.
  • Price, Neil: The Viking Way. Magic and Mind in Late Iron Age Scandinavia. 2. Aufl., Oxford 2019.
  • Green, Miranda J.: Symbol and Image in Celtic Religious Art. London 1989.
  • Curta, Florin: The Slavic Gods and Heroes. London 2021.