Polytheistische Theologie: Tempel des Pantheon und der „unbekannten Götter“
Die antike Religion war von Vielfalt geprägt. Tempel wie das römische Pantheon waren keine Häuser eines einzigen Gottes, sondern Monumente der Fülle. In ihnen spiegelte sich eine Theologie wider, die auf Pluralität, Offenheit und Inklusion beruhte. Jede Gottheit hatte ihre Sphäre: Jupiter als Herr des Himmels, Venus als Göttin der Liebe, Mars als Gott des Krieges – und daneben unzählige lokale und importierte Mächte. Religion bedeutete im polytheistischen Kontext nicht Ausschluss, sondern Anerkennung der Vielfalt des Göttlichen.
Das Pantheon als Symbol der Vielfalt
Das Pantheon in Rom, eines der bekanntesten Bauwerke der Antike, stand nicht für den Sieg eines Gottes, sondern für das Nebeneinander vieler. Es war eine architektonische Manifestation der Überzeugung, dass Welt und Gesellschaft von verschiedenen Kräften getragen werden. Polytheismus war hier nicht Beliebigkeit, sondern Respekt gegenüber kosmischer Ordnung und fremden Kulten, die in das Reich integriert wurden.
Der Altar „für den unbekannten Gott“
Besonders interessant ist ein anderes Symbol dieser Offenheit: der Altar „für den unbekannten Gott“. In Athen belegen Pausanias und Philostratos, dass solche Altäre existierten. Sie dienten nicht der Anbetung eines verborgenen, „eigentlich“ monotheistischen Gottes, sondern hatten zwei Funktionen:
- Anerkennung des Unvollständigen – die Menschen wussten, dass es weitere göttliche Mächte geben könnte, die man nicht übersehen wollte.
- Respekt vor Fremden – Besucher der Stadt konnten sicher sein, dass auch ihre Gottheiten in das rituelle Leben einbezogen wurden.
Diese Altäre waren Ausdruck religiöser Höflichkeit und Weitsicht.
Paulus’ rhetorische Umdeutung
In der Apostelgeschichte (17,22–23) begegnet Paulus einem solchen Altar und deutet ihn um: „Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch.“ Damit verwandelt er das Zeichen von Respekt und Pluralität in ein Symbol des Mangels: Die Athener hätten zwar religiösen Eifer, aber keine wahre Erkenntnis. So macht Paulus aus der polytheistischen Offenheit einen Beweis für Unwissenheit – eine rhetorische Strategie, die später theologisch folgenreich wurde.
Vielfalt als Defizit?
Mit dem Siegeszug des Christentums wurde dieses Deutungsmuster verstärkt: Polytheismus galt nun als Aberglaube, Offenheit als Beliebigkeit, Vielfalt als Schwäche. Aus der antiken Fähigkeit, fremde Götter aufzunehmen und respektvoll einzubinden, wurde ein angebliches Zeichen von Unvermögen.
Jan Assmann beschreibt diesen Bruch als „mosaische Unterscheidung“: die klare Trennung von wahrer Religion und falschem Götzendienst. Damit ging ein ganzes Verständnis von Religion verloren, das nicht auf Ausschluss, sondern auf Anerkennung unterschiedlicher göttlicher Kräfte beruhte.
Annotierte Literaturliste
- Mary Beard: The Pantheon. Rome’s Building and Its Meaning (Harvard UP, 2018).
Detaillierte Analyse des Pantheon als Bauwerk und Symbol für römische Religiosität.
- Jörg Rüpke: Religion of the Romans (Polity Press, 2007).
Grundwerk zur römischen Religion, betont die Pluralität und Integrationsfähigkeit des Polytheismus.
- Jörg Rüpke: Pantheon. Geschichte der antiken Religionen (München 2016).
Überblickswerk, das den Begriff „Pantheon“ als Symbol für polytheistische Vielfalt deutet.
- Pausanias: Beschreibung Griechenlands 1,1,4.
Zeitgenössische Quelle zu den Altären „für unbekannte Götter“ in Athen.
- Philostratos: Vita Apollonii VI,3.
Erwähnt die Verehrung unbekannter Götter im griechischen Kontext.
- Friedrich Pfister: „Der unbekannte Gott“ in Philologus 84 (1929), S. 1–29.
Klassische Untersuchung über Funktion und Bedeutung der Altäre für unbekannte Götter.
- Robert Parker: Polytheism and Society at Athens (Oxford 2005).
Analyse der religiösen Praktiken Athens, inkl. Altäre für unbekannte Gottheiten als Ausdruck ritueller Vorsicht.
- Apostelgeschichte 17,22–23.
Biblische Grundlage für Paulus’ Rede auf dem Areopag.
- Troels Engberg-Pedersen: Paul and the Stoics (Westminster John Knox, 2000).
Untersucht, wie Paulus philosophisch-religiöse Konzepte transformiert und rhetorisch nutzt.
- Ferdinand Hahn: Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 2002).
Deutung der paulinischen Areopagrede und ihrer Strategie.
- Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (München 1998).
Führt den Begriff der „mosaischen Unterscheidung“ ein, der Exklusivität und Abwertung des Polytheismus beschreibt.
- Guy Stroumsa: The End of Sacrifice. Religious Transformations of Late Antiquity (Chicago 2009).
Zeigt, wie Opferpraxis und Polytheismus im Zuge der Christianisierung als Aberglaube diffamiert wurden.

