Seit dem Jahr 2000 kehren die Wölfe nach Deutschland zurück und lösen sowohl Begeisterung wie auch Abscheu aus. Warum nur? Wir werden wohl kaum jemals einen Wolf in freier Natur sehen, trotzdem ist er so unglaublich präsent und sehr umstritten.

Die christliche Projektion ist geschwunden und das ökologische Verständnis für den Wolf wächst. Pro Wald bedeutet, Wölfe rein und Jäger raus. Wölfe sind weniger gefährlich als Wildschweine oder Zecken und der Wolf steht inzwischen unter strengem Naturschutz.

Seine Faszination geht weit darüber hinaus. Im boomenden Neuheidentum steht Herr Isegrimm hoch im Kurs. Wölfe und Krähen werden als Totem oder Schutztier am häufigsten genannt. Naturromantik? Nationalsozialistische Sentimentalität? Ist der Wolf doch ein politisches Symbol?

Viele Völker, von Indien über Europa bis nach Island und noch darüber hinaus, beriefen sich auf den Wolf als Ahnherren, und das, obwohl der Wolf als unreines Tier galt, als Bote von Krieg, Tod und Untergang. Vielerorts bewachte er das Tor zum Totenreich, als Anubis, Zerberus, Fenrir. Zum Wolf zu werden war aber notwendig, um Krieger zu werden; das Ritual schrieb den Verzehr von Wolfsfleisch und ein Leben als Räuber vor. Damals wusste man immerhin noch, wie die Rückverwandlung zum Menschen zu bewerkstelligen war, ein Bad war nötig, das Wolfsfell musste verbrannt, das Blut abgewischt und ein Sündenbock geschlachtet werden.

Der Vollmond im Januar ist der Wolfsmond, aber sein großes Fest feiert der Wolf Mitte Februar. Der Valentinstag ist ein Überbleibsel des Lupercalia-Festes, der Tag, an dem die Wolfskrieger zurückverwandelt wurden. Außer in Mythen finden sich Spuren der Wolfsverwandlung als Kriegerinitiation auch in uralten Gesetzestexten und als archäologische Belege in der Steppe bei Krasnosamarskoje.

Die Werwölfe sind nicht totzukriegen. Die Tierverwandlung ist eine übliche schamanistische Praxis, aber auch Symptome der Tollwut gingen in den Werwolf-Mythos mit ein. Es gab eine unbestimmte Anzahl an Werwolfprozessen, „Werwolf“ als Metapher für einen Serienkiller, es gab den „Werwolf“ in der Nazi-Propaganda und es gibt immer wieder „Lone-wolf“-Terroristen. Trotzdem ist der einsame Wolf nach wie vor ein Idol. In unserer modernen Mythologie, ob Krimis, Western, Action- oder Superheldengeschichten, ist der typische Held ein einsamer Wolf. Und wir wollen mit dem Wolf tanzen, denn er ist ein gutaussehender Killer, intelligent, verwegen, ein sexy Außenseiter. Das ist cool und wir hatten wohl alle schon unsere eigenen Einsamer-Wolf-Momente oder -Phasen.

Wir romantisieren die Einsamkeit als mußevolle Quelle von Kreativität, Spiritualität und Würde. Dabei leben wir in einem Zeitalter der Einsamkeit. Der Anteil der Single-Haushalte wächst, mehr und mehr Menschen erleben ihre Isolation als Belastung. Depressionen, Angststörungen, soziale Phobien, Essstörungen, Süchte breiten sich epidemisch aus.

Zuneigung ist erwiesenermaßen ein starkes Mittel gegen Schmerz und Kummer. Niemand hat solch engen Kontakt zur Spezies Mensch aufgebaut oder war länger an unserer Seite als Canis lupus familiaris. Das erste Haustier erkennt den Menschen als sein Alpha-Tier an, wenn auch manchmal zähnefletschend. Wölfe und Menschen sind sich so erstaunlich ähnlich in ihrem Sozialverhalten. Im Rudel gibt es einen ständigen Fluss an Interaktionen und immer geht es um die Position in der Rangordnung.

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, das schrieb Plautus um ca. 200 v.Chr. in einer Komödie. Aber daran ist nichts lustig. Warum nur führt das Zusammenleben von Menschen immer wieder zur Gewalt? Wegen der “Unstillbarkeit des Begehrens” schreibt René Girard. Es gibt für uns keine zwingenden, endgültigen Hierarchien, daher herrscht “der Krieg aller gegen alle”. Wir kämpfen verbissen um unseren Status im Rudel und bekämpfen unseren Frust mit Fressen, also Konsum, was die Einsamkeit und Scham schlimmer macht. Gelegentlich entlädt sich die Spannung durch das Opfern eines Sündenbocks. Dieses Ritual erfordert nicht unbedingt Blutvergießen, das Ausstoßen des „Omega-Tieres“ – also Mobbing-  genügt völlig. Für uns als soziale Lebewesen bedeutet das fast automatisch den Verlust von Gesundheit und Existenz. Den Letzten beißen die Hunde.

In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.“ (Nietzsche)

Wir leben in einer „Wolfszeit“, einer von Gier geprägten Epoche. Das Rudel bedeutet Nahrung und Schutz, Geborgenheit. Als Familientiere fühlen wir uns wohl in kleinen Gruppen, wir brauchen die Verbundenheit und Nähe. Wir sind fähig zu Empathie und Vertrauen, wir haben einen Sinn für Gerechtigkeit und damit sind wir für die Zusammenarbeit geschaffen. Im Rudel sind wir stark und der Erfolg macht uns euphorisch. Denn nur die Zugehörigkeit gibt uns Wert und Würde.

Wir wollen mit den Wölfen heulen, aber genau das ist gefährlich für eine Gruppe oder Gemeinschaft, für die Demokratie. Vor allem, wenn längst als normal gilt, was eigentlich krank oder schädlich ist. Wenn wir blind werden, und nur noch mitlaufen, wenn wir Blut sehen wollen, sollten wir besser ganz schnell wieder aus der Wolfstrance aufwachen.

Der Wolfszauber war mächtig, deshalb stammen wir (Indogermanen) wohl allesamt vom Wolf ab. Werwolf? Wir wissen nicht mehr, wer wer ist. Wolf oder Mensch, wir sind opportunistische Beutegreifer, Raubtiere, wir beißen zu – einfach, weil wir es können.

Der große böse Wolf, er ist der Archetyp eines Räubers, aber den Titel „Das schädlichste Tier“ („Grosses Vollständiges Universal-Lexikon“ aus dem Jahr 1758), können allemal wir Menschen beanspruchen.

 

Ein deutlich ausführlicherer Artikel zum Wolf -mit allen Quellen- erscheint dieses Jahr in meinem
„Buch der Geister“ als e-book. Weitere Kapitel befassen sich mit z.B. Einhorn und Schmetterling, dem Bikerspirit, dem Genius loci von Berlin und Mammon. Auf meiner facebook-Seite „Syba Sukkub“ gibt es dazu weitere Information. Wer facebook nicht mag, kann gern direkt Kontakt aufnehmen: mail@syba-s.de

Lesung von Syba Sukkub am 8.9. auf der Langen Nacht der Religionen