"Wir sind die mit den vielen Göttinnen und Göttern!"

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Projekt Dialog+

Wir freuen uns sehr, auf unserer Veranstaltung am 13.09.2025 mit einem Infotisch unser erstes weiteres Projekt zur interreligiösen Zusammenarbeit und Bildung vorzustellen:

Zusammen mit An-Nusrat e.V. und ISKON ist Pantheon e.V. beteiligt an der Erschaffung einer digitalen Lernplattform für Religionsgemeinschaften. Das Angebot richtet sich vorallem an kleinere Gruppen für die Beratung zu bestimmten Themen sonst zu teuer ist. In Lehrvideos geht es um Fundraising, Arbeit mit Ehrenamtlichen, Rechtsfragen rund um Vereinsgründungen, Öffentlichkeitsarbeit und vieles mehr.

Wir freuen uns, dass es mit tatkräftiger Unterstützung von An Nusrat. dem islamischen Wohlfahrtsverband, einen Infotisch zum Projekt geben wird. Und wir freuen uns, dass damit auch direkt die interreligiöse Arbeit bei unserer Veranstaltung sichtbarer wird.

Es ist der Anfang von mehr, viel mehr – das können wir euch versprechen.

https://dialog-plus.info

Frau Holle – Muttergöttin, Wandlerin und Hüterin der Unterwelt

Die Figur der Frau Holle ist vielen aus dem Märchen der Brüder Grimm bekannt: eine alte Frau, die Fleiß belohnt und Faulheit bestraft. Doch hinter dieser scheinbar einfachen Märchengestalt verbirgt sich eine uralte mythische Tradition, die tief in vorchristliche Glaubenswelten hineinreicht. Frau Holle ist weit mehr als eine Hausmutter in der Märchenwelt – sie ist eine Muttergöttin, Unterweltgöttin und Wandlerin.

Vorchristliche Wurzeln

Frau Holle, auch Hulda, Holda oder Holla genannt, war ursprünglich eine Matronengöttin. Verehrt wurde sie vor allem in Mittel- und Süddeutschland. Sie war zuständig für das Spinnen, Weben und die häuslichen Arbeiten, zugleich aber auch für Fruchtbarkeit, Kindersegen und die Zyklen der Natur. In ihr verbinden sich Aspekte einer Erdgöttin und einer Himmelsgöttin: sie schenkt Leben, hütet es und nimmt es schließlich wieder zu sich.

Heilige Orte und Zugänge zu ihrem Reich

Die Mythen verorten Frau Holle an besonderen Orten: Teiche, Quellen, Brunnen und Höhlen gelten als ihre Wohnstätten und als Portale in die Anderswelt. Der bekannteste davon ist der Frau-Holle-Teich auf dem Hohen Meißner in Hessen. Dieser gilt bis heute als Eingang zu ihrem Reich unter der Erde – ein Ort der Transformation und der Seelenwanderung. Auch in Gotha gibt es eine Sage, dass Frau Holle ungeborene Kinder in einer Quelle behüte. Die Brunnen und Wasserstellen symbolisieren hier Übergänge, Schwellen und Verbindungen zwischen der Welt der Lebenden und der Anderswelt.

Frau Holle und Hel

In manchen Deutungen wird Frau Holle mit der nordischen Totengöttin Hel gleichgesetzt. Dabei zeigt sich ein entscheidender Unterschied zur christlichen Vorstellung der „Hölle“: Das Helheim ist kein Ort der ewigen Verdammnis, sondern ein Reich der Wandlung, in dem die Seele nach dem Tod verweilt und sich verwandelt. Damit teilt Frau Holle mit Hel die Rolle als Hüterin des Übergangs, als Begleiterin von Werden und Vergehen. Sie verkörpert den zyklischen Charakter der Natur – Geburt, Tod und Wiederkehr.

Die Wandlerin

Frau Holle ist eine Gestalt der Dualität: Sie erscheint gütig, mütterlich und fürsorglich, wenn sie Fleiß belohnt und Segen spendet. Zugleich kann sie streng und strafend sein, wenn Ordnung und Respekt verletzt werden. Diese Doppelgesichtigkeit macht sie zu einer Wandlerin, die alle Aspekte des Lebens umfasst: das Schöne und das Bedrohliche, das Gebende und das Nehmende. In ihr spiegelt sich das Leben selbst, das stets in Bewegung und Veränderung ist.

Warum ist das moderne Heidentum KEINE Naturreligion?

Der Begriff „Naturreligion“ ist ein historisch belasteter und wissenschaftlich problematischer Terminus. Seine Entstehung und Verwendung hängen eng mit den Entwicklungen der europäischen Religionswissenschaft und Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts zusammen.

Entstehung des Begriffs

„Naturreligion“ wurde in der Aufklärung und im Kolonialzeitalter als Gegenbegriff zur „Offenbarungsreligion“ geprägt. Theologen und Philosophen – etwa Immanuel Kant oder Friedrich Schleiermacher – stellten Religionen, die nicht auf einer schriftlich fixierten göttlichen Offenbarung beruhen, in Gegensatz zum Christentum. „Naturreligion“ sollte beschreiben, dass diese Religionen aus der „Natur“ des Menschen hervorgehen, ohne göttliche Eingebung oder schriftliche Tradition. Damit war der Begriff von Anfang an abwertend konnotiert: Er kennzeichnete Religionen als früh, unvollkommen, primitiv – lediglich eine Vorstufe zur „eigentlichen Religion“.

Im Zuge der Kolonialexpansion Europas griffen Missionare und Kolonialbeamte diesen Begriff auf, um Religionen in Afrika, Amerika, Asien oder Ozeanien zu klassifizieren. Er diente dazu, kolonialisierte Kulturen als geistig rückständig darzustellen und das eigene Missions- und Herrschaftsprojekt zu legitimieren.

Eurozentrische und kolonialistische Prägung

Das Konzept „Naturreligion“ ist zutiefst eurozentrisch:

  • Es setzt das Christentum als Maßstab, an dem andere Religionen gemessen werden.
  • Religionen ohne Buch, kanonische Lehre oder zentralisierte Institutionen wurden als defizitär gedeutet.
  • „Natur“ wurde als Gegensatz zu „Kultur“ und „Zivilisation“ verstanden, womit diese Religionen pauschal als unentwickelt galten.

Darüber hinaus beförderte der Begriff stereotype Vorurteile, die bis heute wirksam sind: Die Vorstellung, „Naturvölker“ würden „Steine anbeten“ oder „Bäume verehren“. Diese simplifizierenden Klischees finden sich besonders in älteren theologischen Schriften und haben das Bild indigener Religionen bis ins 20. Jahrhundert geprägt.

Problematische Wirkung im Diskurs

Wenn heute noch von „Naturreligion“ gesprochen wird, wird unbewusst diese koloniale Abwertung reproduziert. Der Begriff suggeriert:

  • dass die betreffenden Religionen irrational seien,
  • dass sie lediglich Objekte oder Naturphänomene anbeten,
  • dass ihnen die „Höhe“ und „Reife“ großer Buchreligionen fehle.

Damit transportiert der Ausdruck auch heute noch eine christlich-theologische Vorrangstellung und fördert Vorurteile anstatt differenzierter Wahrnehmung.

Warum der Begriff für modernes Heidentum ungeeignet ist

Moderne heidnische Bewegungen wie Ásatrú, Druidentum oder Wicca verstehen sich nicht als „Naturreligionen“ im Sinne dieser alten Klassifikationen. Zwar spielt die Natur in Ritualen und Symbolik eine zentrale Rolle, doch diese Bewegungen sind:

  • bewusst reflektiert: Sie entstehen in modernen Gesellschaften und setzen sich aktiv mit Geschichte, Mythologie und Philosophie auseinander.
  • pluralistisch: Sie integrieren Traditionen, Mythen und Praktiken aus unterschiedlichen Epochen und Regionen.
  • selbstbestimmt: Sie treten nicht als „Überreste primitiver Kulte“ auf, sondern als zeitgenössische Religionsformen mit eigenen theologischen und spirituellen Ansprüchen.

Den Begriff „Naturreligion“ zu verwenden, hieße also, moderne heidnische Religionen in dieselbe Schublade zu stecken wie die abwertenden Klassifikationen kolonialer Theologen. Dies widerspricht dem Selbstverständnis und fördert Missverständnisse im interreligiösen Dialog.

Fazit

Der Begriff „Naturreligion“ ist ein koloniales Erbe und sollte in der religionswissenschaftlichen wie interreligiösen Redeweise nicht mehr unkritisch benutzt werden. Stattdessen ist es sinnvoller, differenzierte Bezeichnungen wie „indigene Religionen“, „polytheistische Religionen“, „erdverbundene Spiritualität“ oder schlicht die Eigenbezeichnungen der jeweiligen Tradition zu verwenden. Für modernes Heidentum wie Asatru und Druidentum ist der Begriff nicht nur unzutreffend, sondern trägt unweigerlich Vorurteile fort, die es zu überwinden gilt.

Literaturhinweise

  • Bergunder, Michael (2010): Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 18(1).

– Kritische Auseinandersetzung mit Begriffsbildungen und deren eurozentrischen Wurzeln.

  • Gladigow, Burkhard (2005): Europäische Religionsgeschichte. In: Hubert Cancik / Burkhard Gladigow / Karl-Heinz Kohl (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart.

– Erklärt, wie die Begriffe „Natur-“ und „Offenbarungsreligion“ im europäischen Kontext entstanden.

  • Kippenberg, Hans G. / Stuckrad, Kocku von (2003): Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe. München.

– Überblick über zentrale Begriffe der Religionswissenschaft, inkl. Kritik am „Naturreligions“-Konzept.

  • Masuzawa, Tomoko (2005): The Invention of World Religions. Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago.

– Zeigt die kolonialen und eurozentrischen Hintergründe der Kategorisierung von Religionen.

  • Stuckrad, Kocku von (2010): Locations of Knowledge in Medieval and Early Modern Europe. Esoteric Discourse and Western Identities. Leiden/Boston.

– Historische Analyse, wie religiöse Kategorien (inkl. „Naturreligion“) zur Abgrenzung Europas von „anderen“ dienten.

  • Smith, Jonathan Z. (1998): Religion, Religions, Religious. In: Mark C. Taylor (Hg.): Critical Terms for Religious Studies. Chicago.

– Grundlagentext zur Kritik an religionswissenschaftlichen Kategorien, die oft eurozentrisch konstruiert sind.

Macht mit und beteiligt euch!

Ich greife mal eine Frage aus dem Chat auf:

Eure Veranstaltung am 13.09.2025 – kostet das Eintritt?

Nein: Es kostet keinen Eintritt. Jeder und jede soll teilnehmen können, ungeachtet finanzieller Möglichkeiten.

Natürlich ist es für uns als Veranstalter nicht „kostenlos“. Wir zahlen Miete, Transporte, stellen Kaffee und Tee, Putzmittel und opfern auch Urlaubstage… und das ganze Drumherum ist auch nicht ohne Aufwand.

Wir haben nach 11 Jahren Arbeit als Arbeitskreis daher nun auch einen Trägerverein gegründet: Pantheon Berlin e.V. Der Verein dient als organisatorisches Zentrum, wir können einen Mietvertrag unterschreiben usw. Und wir stecken natürlich unsere Mitgliedsbeiträge in die interreligiösen Projekte.

Von daher freuen wir uns über Spenden, seien sie noch so klein. Lasst also gern vor Ort etwas da.

Und: Wir freuen uns über tatkräftige Mithilfe. Wenn ihr im kommenden Jahr auch etwas anbieten wollt oder beim Transport helfen, beim Auf- und Abbau mit anfassen wollt, wenn ihr den Eingang bewachen oder Kaffee, Tee, Kekse mitbringen oder kochen könnt – meldet euch bei uns. Auch in diesem Jahr natürlich. Sprecht uns an den Ständen an.

Wenn ihr zum Heidentum oder einer magischen Gruppe gehört: Es ist unser aller Vernetzung und hilft allen, positiv und gleichberechtigt miteinander zu lernen und voranzukommen und in der Gesellschaft sichtbar zu sein. Das ist schon innerhalb unserer community eine Herausforderung – ist es aber wert!

ECHTER interreligiöser Dialog braucht UNSERE Anwesenheit – besonders kleinere, marginalisierte Religionen haben die Verantwortung, der Dominanz der „Großen“ etwas entgegenzusetzen. Und dazu gehören auch wir. Das sagen wir gerade nach über 10 Jahren Erfahrung damit mit wachsender Überzeugung!

In einer Gesellschaft, die mehr und mehr verlernt, miteinander in Respekt auszukommen, ist das euer Beitrag zu einem besseren Leben und zu echten safe places!

Warum der Begriff „Weltreligionen“ problematisch ist

Wenn von „Weltreligionen“ die Rede ist, klingt das zunächst neutral: Man meint die großen Religionen, die auf der ganzen Welt verbreitet sind. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der Begriff alles andere als unschuldig ist – und in interreligiösen Begegnungen sogar mehr trennt als verbindet.

Woher der Begriff kommt

Der Ausdruck „Weltreligionen“ entstand im 19. Jahrhundert, einer Zeit, in der europäische Gelehrte Religionen nach wissenschaftlichen Kriterien ordnen und vergleichen wollten. Als Maßstab galten: viele Anhänger:innen, weite geografische Verbreitung und vor allem schriftlich fixierte Lehren. In diese Kategorie passten Christentum, Islam, Hinduismus und Buddhismus. Religionen ohne „heilige Bücher“, ohne Mission oder ohne globalen Anspruch – etwa indigene Traditionen – wurden ausgeschlossen.

Schon hier wird sichtbar: Die Kriterien spiegeln ein stark europäisch geprägtes Denken wider und nicht die Selbstsicht der jeweiligen Religionen.

Ein Begriff, der spaltet

Wer von „Weltreligionen“ spricht, teilt Religionen unbewusst in Klassen ein:

„Wichtig“ vs. „unwichtig“ – manche Religionen erscheinen relevant, andere nebensächlich.

„Echt“ vs. „nicht echt“ – nur die „großen“ Religionen gelten als „vollwertige“ Religionen, andere werden als Aberglauben oder Folklore abgetan.

Damit schafft der Begriff eine Hierarchie, die viele Gemeinschaften marginalisiert.

Kritik aus der Religionswissenschaft

Heute sehen viele Forscher:innen den Begriff kritisch. Er sei nicht nur ungenau, sondern auch normativ – also wertend. Statt die Vielfalt religiöser Wirklichkeiten abzubilden, verengt er den Blick auf wenige „große Systeme“. Er ist also eher ein Produkt westlicher Wissenschaftsgeschichte als eine treffende Beschreibung der religiösen Landschaft der Welt.

Warum er im Dialog nicht hilft

Gerade im interreligiösen Dialog ist der Begriff „Weltreligionen“ fehl am Platz. Wenn nur bestimmte Religionen eingeladen werden, andere aber nicht, entsteht keine echte Begegnung auf Augenhöhe. Das Ziel des Dialogs – Respekt und Verständigung zwischen allen spirituellen Wegen – wird untergraben.

Darum setzen viele interreligiöse Netzwerke inzwischen auf inklusivere Formulierungen. Statt von „Weltreligionen“ sprechen sie von Religionen, spirituellen Traditionen oder Glaubenswegen – ohne Wertung, ohne Hierarchie.

Fazit

Der Begriff „Weltreligionen“ stammt aus einer Zeit, in der Religionen in ein starres Schema gepresst wurden. Er spaltet in „groß“ und „klein“, „echt“ und „unecht“ – und ist damit alles andere als hilfreich. Wer Vielfalt ernst nimmt, sollte ihn meiden und nach einer Sprache suchen, die alle religiösen Traditionen auf Augenhöhe sichtbar macht.

Grundlegende Werke zur Kritik am „Weltreligionen“-Modell

  • Wilfred Cantwell Smith (1962): The Meaning and End of Religion.

Smith zeigt, dass Begriffe wie „Religion“ oder „Weltreligion“ Konstrukte der modernen Wissenschaft sind, die den gelebten Glauben nicht angemessen wiedergeben.

  • Tomoko Masuzawa (2005): The Invention of World Religions: Or, How European Universalism Was Preserved in the Language of Pluralism. Chicago.

Eine grundlegende Analyse, wie der Begriff „Weltreligionen“ im 19. Jahrhundert aus europäischem Universalismus entstand und wie er bis heute koloniale Denkweisen fortschreibt.

  • Hans G. Kippenberg (2002): Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne. München.

Zeigt auf, wie die Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert Religionen hierarchisierte und dabei das Konzept der „Weltreligionen“ etablierte.

Wir stellen vor: kaa – Stadt-Druide.berlin

In Berlin beheimatet, gestaltet kaa Räume für kollektiven Wandel – durch Design und Moderation partizipativer Veränderungsprozesse, Rituale und eine tiefe Praxis der Wiederverzauberung. Als Weggefährte auf dem alten Pfad seit über 30 Jahren, verbindet kaa druidische Weisheit und Praxis mit zeitgenössischer Übergangsbegleitung. Ihre Arbeit erinnert daran, dass Veränderung nicht verwaltet, sondern gerufen und geerdet werden will.

https://stadt-druide.berlin

kaa@stadt-druide.berlin

Bei unserer Veranstaltung zur Langen Nacht der Religionen am 13.09.2025 ist kaa mit dem Thema „Tiefenökologie“ dabei. Um 15.30 Uhr in Raum 11.

Orale Kulturen vs. Schriftkulturen – Was ist verlässlicher?

Wenn wir heute an „verlässliche Überlieferung“ denken, greifen wir instinktiv zur Schrift. Texte scheinen festzuhalten, was einmal aufgeschrieben wurde. Doch die Kulturwissenschaft zeigt: Auch mündliche Traditionen können erstaunlich stabil und originalgetreu über Jahrhunderte weitergegeben werden.

Mündliche Überlieferung – stabiler als gedacht

Orale Kulturen bewahren ihr Wissen durch Erzählungen, Lieder und Rituale. Studien, etwa zur Entstehung von Epen wie der Ilias oder dem Mahabharata, haben gezeigt: Mündliche Dichtung folgt festen Formeln und wiederkehrenden Strukturen. Diese Techniken sichern nicht nur den Rhythmus, sondern auch den Inhalt (Parry 1971; Lord 1960).

Hinzu kommt die soziale Dimension: In Gemeinschaften wird Abweichung sofort bemerkt und korrigiert. Rituale, Feste und gemeinsame Rezitationen verstärken die Stabilität. Beispiele aus der Gegenwart – afrikanische Griots oder die „Songlines“ der australischen Aborigines – belegen, dass Geschichten, Lieder und Orientierungssysteme über Generationen hinweg detailgetreu weitergegeben werden können (Finnegan 1992; Kelly 2015).

Schriftliche Überlieferung – fixiert, aber veränderlich

Schrift schafft einen anderen Zugang: Sie fixiert einen Text auf einem materiellen Träger. Damit wird eine „Momentaufnahme“ gesichert, die über Jahrhunderte Bestand haben kann. Doch auch hier lauern Gefahren:

– Abschreibfehler beim Kopieren von Manuskripten

– Variantenbildung durch parallele Überlieferungslinien

– Übersetzungen, die immer auch Interpretationen sind

– Bewusste Anpassungen an neue theologische oder politische Kontexte

Die Textgeschichte der Bibel oder antiker Autoren zeigt, dass kaum ein Werk ohne Varianten überliefert ist (Epp & Fee 1993; Parker 2008). Was auf den ersten Blick festgeschrieben wirkt, ist in der Praxis also oft ein Flickenteppich von Versionen.

Keine Kulturform ist per se „zuverlässiger“

Die Forschung zeigt: Orale Überlieferungen sind keineswegs ungenauer als schriftliche. Im Gegenteil – solange der soziale und rituelle Rahmen intakt bleibt, können mündliche Traditionen erstaunlich treu und stabil bleiben. Schriftliche Kulturen sichern einzelne Fassungen, bringen aber über lange Zeiträume oft eine Vielzahl von Varianten hervor.

Am stabilsten sind Überlieferungen dort, wo beide Formen zusammenspielen: Texte, die rezitiert und in Ritualen lebendig gehalten werden, und Traditionen, die zugleich schriftlich dokumentiert sind.

Verlässlichkeit ist weniger eine Frage von „Schrift oder Mündlichkeit“, sondern hängt vom kulturellen und sozialen Rahmen ab, der die Überlieferung trägt.

Quellen (Auswahl)

  • Finnegan, Ruth (1992): Oral Traditions and the Verbal Arts. London: Routledge.
  • Kelly, Lynne (2015): Knowledge and Power in Prehistoric Societies: Orality, Memory and the Transmission of Culture. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Lord, Albert B. (1960): The Singer of Tales. Cambridge, MA: Harvard University Press.
  • Parry, Milman (1971): The Making of Homeric Verse: The Collected Papers of Milman Parry. Oxford: Clarendon Press.
  • Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck.
  • Epp, Eldon J.; Fee, Gordon D. (1993): Studies in the Theory and Method of New Testament Textual Criticism. Grand Rapids: Eerdmans.
  • Parker, David C. (2008): An Introduction to the New Testament Manuscripts and their Texts. Cambridge: Cambridge University Press.

Texte oder Funde? Warum moderne Heiden so oft auf alte Schriften blicken

Wer sich mit modernem Heidentum beschäftigt, stößt schnell auf Zitate antiker Autoren: Tacitus, Cäsar oder die Edda gehören zum festen Repertoire. Doch warum spielt Schriftliches eine so große Rolle – und warum geraten archäologische Funde, die ja oft direkter aus der heidnischen Vergangenheit stammen, dabei in den Hintergrund?

Die Autorität der Schrift

Im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert, als sich die ersten Strömungen des modernen Heidentums herausbildeten, waren die Maßstäbe von Wissenschaft und Religion stark textzentriert. Geschichtsschreibung, Theologie und Religionswissenschaft bauten auf Dokumenten, Chroniken und Überlieferungen auf. Wer über Religion sprechen wollte, brauchte Texte.

Das Christentum, Judentum und der Islam konnten auf „heilige Bücher“ verweisen. Heidnische Traditionen dagegen galten als „schriftlos“ – und damit als unbewiesen oder unzivilisiert. Um sich in diesem Diskurs behaupten zu können, griffen moderne Heiden zu dem, was verfügbar war: den Texten von Außenstehenden, die über das Heidentum berichteten. Tacitus’ Germania oder Snorris Edda wurden so zu zentralen Referenzen.

Archäologie: die schwierige Schwester

Natürlich gab es auch Funde: Kultplätze, Grabbeigaben, Mooropfer. Doch diese archäologischen Zeugnisse ließen sich lange Zeit nur schwer eindeutig deuten. Was ist ein Heiligtum, was ein profaner Platz? Welche Objekte sind rituell, welche schlicht alltäglich?

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fehlte eine ausgefeilte Methodik, um Religion aus Funden zu rekonstruieren. Texte wirkten klarer, „verlässlicher“ – auch wenn sie oft christlich oder römisch gefärbt waren. Erst die moderne Religionsarchäologie hat gezeigt, wie sehr Artefakte, Landschaften und Opferstätten zur Rekonstruktion heidnischer Praxis beitragen.

Auseinandersetzung mit Buchreligionen

Die Orientierung am Schriftlichen hängt eng mit der Auseinandersetzung mit Buchreligionen zusammen. Moderne Heiden standen unter dem Vorwurf, ihr Glaube sei „quellenlos“ oder „erfunden“. Der Rückgriff auf Tacitus und andere Autoren war deshalb mehr als bloßes Interesse an Geschichte: Er war eine Legitimationsstrategie.

„Wir haben Texte – also haben wir Tradition“, lautete die Botschaft.

Heute: Texte und Funde

Inzwischen hat sich die Lage gewandelt. Religionsarchäologen wie Neil Price (Children of Ash and Elm, 2020) oder Rudolf Simek (Religion und Mythologie der Germanen, 2014) betonen, dass die materiellen Spuren ein viel komplexeres, oft widersprüchliches Bild ergeben als die alten Texte. Und Religionswissenschaftler wie Ronald Hutton (The Triumph of the Moon, 1999) oder Michael Strmiska (Modern Paganism in World Cultures, 2005) zeigen, dass moderne Heiden heute beides tun: sie beziehen sich weiterhin auf Texte, öffnen sich aber immer stärker auch für archäologische Deutungen.

Fazit

Ja – es lässt sich wissenschaftlich belegen, dass die starke Orientierung moderner Heiden an Schriftquellen mit dem Wettstreit um Autorität im Vergleich zu Buchreligionen zusammenhängt. Texte boten scheinbare Sicherheit und Reputation. Archäologische Funde rückten erst später ins Zentrum, als die Methoden ihrer Interpretation gereift waren.

Die Zukunft dürfte in einer Balance liegen: Texte und Funde ergänzen einander. Beide zusammen eröffnen ein reiches Panorama des alten Glaubens – und damit auch neue Inspiration für modernes Heidentum.

Literaturhinweise:

  • Hutton, Ronald (1999): The Triumph of the Moon. Oxford.
  • Strmiska, Michael (Hg.) (2005): Modern Paganism in World Cultures. Santa Barbara.
  • Simek, Rudolf (2014): Religion und Mythologie der Germanen. Darmstadt.
  • Price, Neil (2020): Children of Ash and Elm. New York.
  • Ellis Davidson, Hilda (1990): Gods and Myths of Northern Europe. London.

Hatten die Germanen wirklich keine Tempel? – Ein Blick auf Tacitus, Kelten und Slawen

Diese Frage wurde mir im vergangenen Jahr von einem Besucher unserer Veranstaltung gestellt.

Hier nun eine etwas ausführlichere Antwort:

Wenn wir heute über die Religionen der Germanen, Kelten oder Slawen nachdenken, begegnet uns oft eine berühmte Stelle bei Tacitus. In seiner Germania (Kapitel 9), verfasst um das Jahr 98 n. Chr., schreibt er, die Germanen hätten keine Tempel gehabt. Für sie sei es unvorstellbar gewesen, die Götter in Mauern einzuschließen. Verehrt hätten sie stattdessen in heiligen Hainen.

Diese Formulierung hat Jahrhunderte lang das Bild geprägt: die Germanen als naturverbundenes Volk ohne feste Kultstätten. Doch was stimmt daran?

Tacitus und seine Perspektive

Tacitus war Römer – und kein Augenzeuge. Er wollte seinen Lesern ein Gegenbild zur eigenen, „dekadenten“ Zivilisation vor Augen führen. Die Germanen erscheinen bei ihm als schlicht, rein und naturverbunden. Historisch ist das Bild jedoch verkürzt.

Archäologische Funde wie der Kultbau von Uppåkra in Südschweden oder Gudme in Dänemark zeigen eindeutig, dass germanische Gemeinschaften Kultgebäude besaßen. Sie waren aus Holz gebaut, nicht aus Stein, und darum weniger dauerhaft. Auch schriftliche Quellen späterer Zeit – etwa Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert den prächtigen Tempel von Uppsala beschreibt – bestätigen, dass es germanische Heiligtümer gab.

Wie war es bei den Kelten?

Auch die Kelten kannten beides:

Naturheiligtümer, etwa Haine oder Quellen, die in antiken Texten immer wieder erwähnt werden.

Kultbauten, die archäologisch belegt sind. Viereckschanzen in Süddeutschland oder Tempelanlagen in Frankreich (Gournay-sur-Aronde, Ribemont-sur-Ancre) zeigen, dass es feste Strukturen für Opfer und Rituale gab.

Die römischen Autoren betonten zwar gern die „wilden Haine“ der Druiden – doch die Funde beweisen, dass die keltische Religion auch architektonisch gefasst war.

Und die slawischen Stämme?

Bei den slawischen Völkern ist die Quellenlage noch deutlicher:

Chronisten wie Thietmar von Merseburg (um 1018) oder Saxo Grammaticus (um 1200) schildern hölzerne Tempel mit Statuen, Altären und Priestern. Besonders berühmt ist der Tempel des Svantevit auf Arkona (Rügen) oder der Kultort von Rethra.

Archäologische Befunde – etwa Brandspuren, Pfostenstellungen und Götteridole – bestätigen diese Berichte. Die slawische Religion war also fest mit Tempelbauten verbunden.

Fazit: Mehr als nur heilige Haine

Tacitus’ Aussage über die Germanen war weniger eine nüchterne Beobachtung als vielmehr ein literarisches Stilmittel. Germanen, Kelten und Slawen hatten sehr wohl Tempel – allerdings meist aus Holz, was ihre Spuren schwer fassbar macht.

Allen gemeinsam war ein Nebeneinander von Natur- und Bauheiligtümern:

  • Haine, Quellen und Berge als heilige Orte,
  • daneben aber auch architektonische Strukturen für Rituale und Götterverehrung.

Die Vorstellung einer rein „naturreligiösen“ Praxis greift also zu kurz. Stattdessen zeigt sich ein vielschichtiges Bild: Natur und Architektur ergänzten sich im Kult dieser vorchristlichen Religionen.

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